Experten im Dialog

Interview mit Karl-Christian Schelzke, VKWH

Einer, der die hessischen Kommunen seit Jahrzehnten kennt und für lokale Demokratie eintritt, ist Karl-Christian Schelzke. Früher Staatsanwalt, dann lange Geschäftsführer des Hessischen Städte- und Gemeindebundes, ist der Mülheimer heute unter anderem Geschäftsführer des Verbandes der kommunalen Wahlbeamten in Hessen. 

Nach 21 Jahren als Geschäftsführer des Hessischen Städte- und Gemeindebundes sind Sie aktiv wie immer. Wo bringen Sie sich ein, was bewegt Sie aktuell?

Während ich früher mehr die Kommunen beraten habe, stehen heute die Bürgermeister im Mittelpunkt. Das ist eine der zentralen Aufgaben als ehrenamtlicher Geschäftsführer des Verbandes der kommunalen Wahlbeamten in Hessen (VKWH). Der Verband vertritt derzeit ca. 260 ehemalige und 160 aktive Bürgermeister und Landräte. Des Weiteren bin ich Vorsitzender der Hessischen Akademie der Forschung und Planung im ländlichen Raum und arbeite zudem als Strafverteidiger im kommunalen Umfeld.

Welche Bedeutung hat die Demokratie vor Ort?

Die Anfänge der kommunalen Politik in Deutschland gehen auf die preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Reichsfreiherr vom und zum Stein legte in der Nassauer Denkschrift 1807 den Grundstein der kommunalen Selbstverwaltung. Stein war der Überzeugung, dass die Menschen vor Ort am besten wissen, wie die sie unmittelbar betreffenden Entscheidungen aussehen sollen. Genau das hat die Preußische Städteordnung übernommen und damit beginnt auch die moderne lokale Demokratie.

Die kommunale Selbstverwaltung ist grundgesetzlich garantiert und gilt als Basis unseres demokratischen Staates. Wenn man Demokratie nicht vor Ort erfahren kann, dann wird eine demokratische Grundhaltung nur schwer zu vermitteln sein. Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey war so auch der Auffassung, dass Demokratie stets im lokalen Umfeld zu beginnen hat. Zugespitzt: Demokratie vor Ort ist die Keimzelle von Demokratie überhaupt.

Wie steht es um die kommunale Politik?

Leider ist die Situation in den letzten Jahren problematischer geworden. Das liegt zu großen Teilen an den Akteuren selbst. Der Ton in den Entscheidungsgremien ist mancherorts deutlich rauer geworden. Hier ist die Kommunalpolitik ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Folge: Es geht oftmals weniger um die Lösung von Sachfragen, sondern eher um grundsätzliche Positionen, die sich aus der jeweiligen Parteizugehörigkeit ergeben. Wenn es verstärkt um Parteienzwist geht, dann fragen die Bürger nach dem Sinn der kommunalen Demokratie. So verspielt man Vertrauen und Rückhalt.

Hat die Digitalisierung die Kommunalpolitik verändert?

Es stimmt, die sozialen Netzwerke haben eine deutliche Wirkung. Denn hier wird in ganz erheblichem Maße aggressiv kommentiert, verächtlich gemacht, gehetzt, bis hin zu Drohungen. Politisch Aktive vor Ort fragen sich dann, ob sie sich dieser Situation aussetzen wollen oder können, besonders dann, wenn die eigene Familie betroffen ist. Es wird zu einem existenziellen Problem, wenn sich Kompetenzträger vor Ort, zum Beispiel Ärzte, Rechtsanwälte, Handwerksmeister, junge Menschen in Ausbildung, deswegen zurückziehen. Dadurch droht der kommunalen Demokratie das Ausbleiben der sie tragenden Akteure.

Seit wann beobachten Sie Änderungen und wo sind die Ursachen?

Ich schätze, dass sich in den letzten zehn Jahren der Umgang insgesamt verschlechtert hat, sowohl in den kommunalen Entscheidungsgremien als auch in den sozialen Netzwerken. Ich habe den Eindruck, dass sich hier eine unheilvolle Wechselwirkung ergeben hat.

Die sozialen Medien haben ganz klar eine enthemmende Funktion. Hat man früher bei Missfallen über die Lokalpolitik einen Leserbrief mit entsprechender Vorbereitung geschrieben, ist der Finger heute in Sekunden auf dem Smartphone und der Ärger in alle Welt hinausposaunt. Das Korrektiv fehlt. Und wenn die Planung einer Umgehungsstraße in den sozialen Netzwerken mit Hass und Polemik kommentiert wird, dann findet dies auch seinen Widerhall in den kommunalen Gremien. Und auch umgekehrt: Manch ein Kommunalpolitiker äußert seine Wut und auch seinen Hass ungebremst im Netz. … Letztendlich wird konsensuale Politik hierdurch immer schwieriger.

Wut, Hass, Drohungen – was müssen Kommunalpolitiker ertragen?

Natürlich muss man auch als Kommunalpolitiker mehr ertragen, als der nur im Privatleben agierende Bürger. Das ist im Rahmen der zu gewährleistenden Meinungsfreiheit einhellige Rechtsprechung. Beispielsweise gehören Zwischenrufe in Sitzungen zur Streitkultur. Das gilt auch für zornige und über das Ziel hinausschießende Äußerungen, aber nicht für verachtende Beleidigungen oder gar Bedrohungen. Der Kern des Problems ist der allgemein festzustellende Verlust an Respekt und gegenseitiger Wertschätzung. Es gilt nicht mehr die Trennung von Person und Meinung. Man kann doch einer grundsätzlich anderen Meinung sein und dennoch verlangen, dass einem als Person Wertschätzung entgegengebracht wird!

Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen, hat 2021 eine Befragung unter den hessischen Bürgermeistern durchgeführt. Knapp die Hälfe der Bürgermeister hat geantwortet. Davon haben 7,6% der Befragten körperliche Angriffe erlebt, Sachbeschädigungen erlebten 13% einmalig, 6,5% sogar schon mehrfach. Bedrohungen und mehrfachen Beleidigungen waren die meisten Bürgermeister in der einen oder anderen Form schon ausgesetzt.

Wie gehen Kommunalpolitiker mit der Bedrohung um?

Nun, manche wenige machen ihre Situation öffentlich und kehren mit lautem Knall der kommunalen Politik den Rücken … Viele aber stellen sich nur still die Frage, ob sie ihr Amt noch weiter ausüben wollen. Oft genug fällt dann die Entscheidung, sich zurückzuziehen und bei den nächsten anstehenden Direktwahlen nicht mehr anzutreten.

Was hilft aus Ihrer Erfahrung gegen Hassreden und sogar Gewalt in der Politik?

Zuerst geht es um Aufklärung, Transparenz und damit um die Schaffung eines Bewusstseins in der breiten Öffentlichkeit. Aber natürlich sind auch Sicherheitsorgane und Strafverfolgungsbehörden gefordert, die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen und einer deutlichen Bestrafung zuzuführen. Denn wie aufgezeigt: Ziehen sich die moderaten, sachorientierten Akteure aus der Lokalpolitik zurück, führt das in eine Abwärtsspirale. Und am Ende ist die Demokratie als Ganzes bedroht.

Sind die Sicherheitsbehörden immer ausreichend aktiv gewesen oder gibt es Nachbesserungsbedarf?

Vielleicht hätte man schon früher entschiedener handeln müssen. Heute jedenfalls sind die Sicherheitsorgane aufmerksamer geworden und gehen mit Bedrohungen offensiver um. So hat das Land Hessen eine Stelle (https://hessengegenhetze.de/) eingerichtet, bei der Bürger Beleidigungen, Hetze und Drohungen online melden können. Man nimmt die Bedrohung ernst, bietet Schutz und verfolgt die Täter. Auf Bundesebene hat der Bundespräsident erst kürzlich das Portal www.stark-im-amt.de als zentrale Anlauf- und Lotsenstelle vorgestellt, die Hilfe und Unterstützung für betroffene Amtsträger leistet. Zudem gibt es Beratungs- und Unterstützungsangebote für Betroffene im Hinblick auf die rechtlichen und sonstigen Möglichkeiten – etwa auch durch unseren Verband. Als ehemaliger Oberstaatsanwalt und auch als Strafverteidiger kann ich einige Hilfestellungen geben.

Was können die Bürger tun? Was riskieren wir, wenn wir nicht aktiv werden?

Die Rolle der Bürger ist ein wirklich wichtiger Aspekt zur Lösung. Wir brauchen eine deutliche zivilgesellschaftliche Gegenreaktion. Den Bürgern sollte bewusst sein, dass jeder Angriff auf einen Bürgermeister oder andere kommunale Amtsträger auch ein Angriff auf die lokale Demokratie und die Bürgerschaft selbst ist! Die lokale Demokratie braucht und lebt von der Beteiligung der Bürgerschaft – vielleicht sogar noch mehr als die Demokratie im Allgemeinen.

Die Bürger müssen eine Gegenöffentlichkeit bilden und klar machen: „Wir lassen unsere Bürgermeister*innen nicht allein!“ Widersprechen, wenn Amtsträger angepöbelt werden. Einspruch erheben, wenn gehetzt wird. Aktiv werden, wenn Lügen verbreitet oder das Gemeinwesen mit Lügen verächtlich gemacht wird. Kurzum, die schweigende Mehrheit ist gefordert, Position zu beziehen und so die lokale Demokratie zu schützen. Zugleich brauchen wir aber auch mehr Mut zur Offenheit auf Seiten der Amtsträger. Gehen Sie in die Öffentlichkeit und machen Sie Bedrohungen publik, kann ich den Kollegen nur ermutigend sagen! Nur wer sich den Rückhalt seiner Kommune sichert, kann sich für die lokale Demokratie stark machen.

Lassen Sie uns die Chancen in den Vordergrund rücken: Was gewinnt die Bürgerschaft durch kommunale Politik und Engagement?

Einfach ausgedrückt kann man dadurch ein Zugehörigkeitsgefühl erfahren, man kann es auch Heimat nennen. Und im Idealfall erlebt man eine solidarische Gemeinschaft, die Halt und Hilfe geben kann. Und die einem bewusst und stolz werden lässt, wenn es gelingt, etwas vor Ort eigenverantwortlich zu gestalten, so zum Beispiel die Organisation eines Dorfladens.

Was entspannt Sie, wenn Sie sich gerade nicht mit Kommunalpolitik beschäftigen?

Mit e-info21 ein Interview zu führen, mit dem ich möglichst vielen Menschen einen Denkanstoß vermitteln kann!

Das freut uns! Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schelzke!


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