Experten im Dialog

Interview mit Matthias Wieliki und Oliver Wolf, Bad Nauheim

Bad Nauheim hat kräftig vorgelegt und liegt deutschlandweit auf einem der vorderen Ränge der smartesten Städte. Wie und warum ist der Start zur digitalen Stadt gefallen?

Oliver Wolf: Uns war die Relevanz digitaler Möglichkeiten für die Kurstadt früh klar. Da erste Projekte schon in Konzernteilen und einzelnen Fachbereichen liefen, war unser zentrales Ziel, diese Projekte zu bündeln, strategisch auszurichten und Synergien zu nutzen. Wichtigstes Ergebnis ist die digitale Agenda. Diese ist, trotz unserer überschaubaren Größe, erfolgsentscheidend.

Was verstehen Sie unter „Smart City“ und warum ist das für Bad Nauheim wichtig?

Matthias Wieliki: Tatsächlich verstehen wir digitale Möglichkeiten in der Stadt nur als Mittel zum Zweck. Ziel ist immer, das Leben der Menschen in Bad Nauheim zu verbessern und das Aufenthaltserlebnis für Gäste zu steigern. Wir denken also dort digital, wo wir Ressourcen durch Digitalisierung effizienter einsetzen können. Denn datengestützt treffen wir viel bessere Entscheidungen zu steuerungsrelevanten Themen für Bad Nauheim. Das ist die Grundlage unseres Smart City-Verständnisses und des Commitments in der digitalen Agenda.

Welche Aspekte, Themen und Handlungsfelder deckt die digitale Agenda ab?

Matthias Wieliki: Unser ganzheitliches Vorgehen ist bestrebt, sämtliche Handlungsfelder der Stadt abzudecken. Wir stoppen nicht an Grenzen von Organisationseinheiten. Wir denken konzernweit, also in den städtischen Tochtergesellschaften und Unternehmen. In unserer digitalen Agenda haben wir deshalb zehn Handlungsfelder definiert, die städtisches Handeln in Gänze umfassen. Die Handlungsfelder Verwaltung, Mobilität, Wirtschaft und Infrastruktur genießen aufgrund aktueller Herausforderungen eine höhere Priorität und werden zunächst vorrangig bearbeitet und sind detaillierter ausgearbeitet.

Braucht man aus Ihrer Erfahrung zwingend eine feste Strategie mit Meilensteinen oder ist Smart City eher ein mutig-pragmatisches Voranschreiten mit Versuch und Irrtum?

Matthias Wieliki: Bei allem Anspruch an ein ganzheitliches Vorgehen haben wir dennoch eine klare Sympathie für „Try and Error“ und eine gesunde Fehlerkultur. Ein zu hoher Berg kann die ersten Schritte hemmen. Daher war es – neben der Priorisierung – wichtig, von Beginn an auch Dinge auszuprobieren. Während Corona haben wir beispielweise mit „www.BadNauheimLiebe.de“ einen regionalen Online-Marktplatz umgesetzt, um unseren Händlern vor Ort direkt unter die Arme zu greifen. Pragmatisches und mehrwertstiftendes Vorgehen ist nicht nur in der Pandemie das erfolgsentscheidende Mindset. Auch nach dem Ende der Lockdowns haben wir das Thema nicht abgehakt. Wie in der digitalen Agenda vorgesehen, entwickeln wir die Plattform zum digitalen Schaufenster der Kurstadt weiter.

Matthias Wieliki (Fachbereichsleiter Zentrale Steuerung)

Wie sind Sie konkret vorgegangen? Können Sie Beispiele nennen, die schon in einem frühen Stadium besonders den Mehrwert für die Bürger zeigen?

Oilver Wolf: Erste Gehversuche in Sachen Sensorik haben wir mit dem Verbau von einigen Parksensoren gemacht. Als Standort haben wir allerdings keine Parkplätze gewählt, sondern Feuerwehrzufahrten und Rettungswege vor Schulen, Kitas oder größeren Wohngebäuden. Wenn Fahrzeuge lebenswichtige Feuerwehrzufahrten blockieren, wird die Ordnungspolizei benachrichtigt und kann die Rettungswege wieder frei machen. Über die Park-Historie lassen sich zudem die „Streifgänge“ optimieren. Dieser Pilot ist mittlerweile im laufenden Betrieb. Und so klein er auch ist, er zeigt, wie gezielte Digitalisierung Leben retten kann.

Wie sollte das Thema Smart City & Smart Region organisatorisch strukturiert sein, damit es Erfolg hat?

Matthias Wieliki: Smart City sollte „zweigleisig“ organisiert sein. Es braucht eine zentrale Steuerungsverantwortung mit Befugnis für Strategie und Governance. Gerade zu Beginn braucht man aber auch dezidierte Ressourcen und vor allem Personal, um voranzukommen. Daneben ist – zweitens – die dezentrale Ressourcenverantwortung in den Fachbereichen wichtig. Und damit alle Beteiligten am gleichen Strang ziehen, ist ein gemeinsames Verständnis aller erforderlich. Das erreichen Sie durch geeignete Formate, wie die digitale Agenda oder eine adressatengerechte Sprache, um alle Bereiche partizipativ einzubeziehen – auch in den Steuerungsprozess.

Wie sind Sie die Verwaltungsmodernisierung angegangen und welche Lösungen setzen Sie ein?

Oliver Wolf: Die Pandemie hat der Verwaltungsdigitalisierung bei uns einen immensen Schub gegeben. Insgesamt aber haben uns zwei Punkte geholfen: erstens der konstante Invest in die IT-Infrastruktur, denn ohne eine solide Infrastruktur geht es nicht. Der zweite Punkt war der unbedingte Wille mit Mut und Kreativität, auch sehr kurzfristige und manchmal auch improvisierte Workflows einzuführen. Wer Neues gestaltet, muss auch mutig Neuland betreten.

Neben einigen weitreichenden und schnellen Erfolgen haben wir gezielt aus den Erfahrungen und auch Fehlern gelernt. Daher gibt es heute eine „Digital-Werkstatt“, in der sich über 20 Beschäftigte aktiv einbringen und die Verwaltungsdigitalisierung mitgestalten. Neue digitale Prozesse sollte man immer mit Fokus auf die Nutzer entwickeln und zusammen mit diesen auch ausprobieren. Mit civento von der ekom21 haben wir dazu ein Werkzeug. Neben der Digitalisierung von Prozessen können wir auf dieser Prozessplattform abgesehen vom reinen Antrag auch automatisierte Workflows und Sachbearbeiter-Prozesse implementieren.

Smart City ist ein breites und komplexes Feld. Auf welche Infrastruktur setzt Bad Nauheim – Sensorik, Datenplattform, Analytics, etc.?

Oliver Wolf: Wir haben uns mit dem „Digitalen Innenstadtmanagement“ auf das Herz unserer Stadt fokussiert. Bei der Übertragung von Daten setzen wir auf mehrere Techniken: LoRaWan, NarrowBand IoT und Mobilfunk. Als urbane Datenplattform nutzen wir cosma21 von der ekom21. Hier laufen alle Daten zusammen und werden dann für die jeweiligen kommunalen Handlungsfelder analysiert und als Entscheidungsinformationen aufbereitet. Unsere Sensorik ist notwendigerweise vielfältig: Verkehrssensoren, Umwelt- und Wetterstationen, Bodenfeuchtigkeitsmesser, Bodentemperatur, smarte Mülleimer, Lärmmessung oder RF-Sensoren. Weitere Erkenntnisse beziehen wir durch den Einsatz von Floating Car Data.

Wie arbeiten Sie mit der ekom21 zusammen? Was sind Ihre Erfahrungen?

Matthias Wieliki: Wir sind schon am Anfang unseres Wegs zur digitalen Stadt auf die ekom21 zugegangen – damals haben dort externe Ansprechpartner noch eine größere Rolle gespielt. Seither hat die ekom21 stetig Kompetenzen und Infrastruktur aufgebaut. Dabei waren wir als eine der ersten Kommunen immer wieder in die Entwicklung eingebunden, man hat konsequent unsere Bedürfnisse erfragt und berücksichtigt.

Insgesamt ist die ekom21 für uns schon seit Jahrzenten ein wichtiger Partner, der viele unserer Fachverfahren betreut. Nehmen Sie als Beispiel die eAkte. Wir sind nicht Frankfurt, Darmstadt oder Wiesbaden. Aber vielleicht hat es geholfen auch die Sicht einer kleineren Kommune einfließen zu lassen. Und umgekehrt: Bei der Entwicklung und Umsetzung der Lösungen von ekom21 hat es vielleicht geholfen, dass wir die Sicht einer kleineren Kommune beisteuern können.

Oliver Wolf (Referent für Digitalisierung)

Wie sieht es mit der Finanzierung aus? Wie lassen sich Digitalisierungsprojekte nachhaltig umsetzen?

Oliver Wolf: Natürlich helfen Förderungen bei der Einführung – ohne sie könnten wir diese Projekte nicht angehen. Bei uns sind es Mittel der „Starken Heimat“ vom Land Hessen und bei der Digitalisierung kommunaler Verkehrssysteme Mittel des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr.

Im Sinne der Nachhaltigkeit wünschen wir uns, dass fördergebende Stellen auch an den Betrieb denken. Selbst wenn wir als kleine Kommune nicht im Fokus stehen, geht es um digitale Infrastruktur, die uns alle im internationalen Vergleich weiterbringt. Außerdem ist die Einführungsgeschwindigkeit bei entsprechender Förderung meistens höher. Wir haben in Bad Nauheim zum Beispiel eine elaborierte Steuerungsstruktur für Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Hier docken wir digital an, damit die Mehrwerte der Infrastruktur die Folgekosten rechtfertigen.

Wenn Sie einen Return on Invest angeben müssten – welche Mehrwerte haben Bürger und Region durch die Digitalisierung? Rechnet sich Smart City für Bad Nauheim?

Matthias Wieliki: Der ROI kann sich schon bei einem Projekt und anschließend optimierter Entscheidungsgrundlage ergeben. Wir glauben, dass eine Smart-City-Infrastruktur in ein paar Jahren Standard sein wird. Daher stellen wir jetzt die Weichen und investieren in die Zukunftsfähigkeit unserer Stadt. Es kann dafür Kritik geben und die Notwendigkeit mag hinterfragt werden. Wir glauben dennoch, dass es sich auszahlt bessere Steuerungsentscheidungen als andere zu treffen und unsere Ressourcen effizienter einzusetzen – dazu wird uns der Klimawandel zwingen. Unsere Umwelt- und Verkehrsdaten sind Live-Indikatoren der Nachhaltigkeitsstrategie und machen die Wirkung von Maßnahmen mess- und steuerbar.

Was haben Sie noch vor in der kommenden Zeit, welche Projekte planen Sie?

Matthias Wieliki: Konkret stehen wir jetzt davor, die Datenplattform so zu entwickeln, dass sie unsere Nachhaltigkeitsstrategie unterstützt. Hier orientieren wir uns an der Donut-Ökonomie. Diese stellt die Zusammenhänge und Wechselwirkungen einzelner Dimensionen und Maßnahmen von Nachhaltigkeit dar. Ziel ist es, diese datengestützt zu prognostizieren.

Zugleich ist uns wichtig, dass wir uns mit den Vorhaben nicht von den Menschen in der Stadt abkoppeln. Deshalb werden wir Hintergründe in Kommunikationskampagnen an die Bürger vermitteln. Wie schon gesagt: Es geht darum, die Lebensqualität von Bürgern und Gästen zu verbessern. Dazu haben wir Ideen und Formate, die erklären und auch die Identifikation mit der Lösung und letztlich mit der Stadt schaffen sollen. Zu smarten Ideen gehört auch das Projekt zur Gründung eines Innovation Hubs, das Raum und Netzwerk für Innovation bietet, die zur Kurstadt passt. Mit dem Coworking Space „Work Nouveau“ im Herzen Bad Nauheims ebnen wir den Weg für ein Gründerzentrum. Für Oktober dieses Jahres ist die Eröffnung angesetzt.

Was erzählt man sich beim Cappuccino am Aliceplatz über die smarte Lösung von Bad Nauheim?

Matthias Wieliki: Am diskussionsfreudigen Treffpunkt inmitten der Innenstadt gibt es sicher brisanteren Klatsch und Tratsch als das Smart-City-Thema. Als die FAZ neulich aber titelte, dass in Bad Nauheim „Sensoren die Duschen überwachen“, hilft uns das nur bedingt. Das mag helfen, die Online-Klickzahlen zu erhöhen – am Aliceplatz macht man sich dann aber eher Sorgen.
Das liegt vielleicht in der Natur der Sache: Smart City und Digitalisierung sind häufig sehr abstrakt und ohne Fachkenntnisse nicht immer angemessen nachzuvollziehen. Smart City ist nicht so greifbar wie eine Straßensanierung oder ein neues Spielgerät auf einem Spielplatz. Ganz konkret am Beispiel: Im Artikel wurde dann erklärt, dass Sensoren den Wasserverbrauch monitoren und melden, falls in einer städtischen Sporthalle eine Dusche übers Wochenende läuft. Es geht also nicht um die Überwachung des persönlichen Wasserverbrauchs, sondern um den Umgang der Stadt mit der knappen Ressource Wasser. Dafür braucht man solide Steuerungsinformationen. Ob man dazu Leckagen erfasst, Beregnungsintervalle optimiert oder Rückhalte-Becken steuert, die Stadt braucht eine smarte Lösung zur Auswertung dieser Daten.

Herr Wieliki, Herr Wolf, vielen Dank für das Gespräch.