Interview

Bildung der Zukunft – Bildung für die Zukunft 

Hendrik Drachsler, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und Leiter des Arbeitsbereichs „Educational Technologies“ am DIPF/Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, beschäftigt sich intensiv und kritisch mit der Thematik. e-info21 blickt im Interview mit dem Forscher in die Zukunft von Bildung und Lernen. 

einfo21-digital: Sie leiten den Arbeitsbereich Bildungstechnologien am DIPF. Was sind die Forschungsschwerpunkte und zentralen Forschungsfragen? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Das DIPF konzentriert sich auf empirische Bildungsforschung, um die Lage der Bildung in Deutschland auf empirischen Grundlagen zu beschreiben. Mein Fachbereich „Educational Technologies“ umfasst dabei zwei Teilaspekte:

Zum einen evaluieren wir neue Bildungstechnologien und ihren Nutzen für Schulen. Zum anderen beschäftigen wir uns intensiv mit der Analyse von Daten. Man spricht auch von Learning Analytics, eine Forschungsrichtung, die erst mit der Digitalisierung entstanden ist. Musste man früher für die empirische Forschung Fragebögen – mit zum Teil geringen Rücklaufquoten – auswerten, so stehen uns heute für die Bildungsforschung Datensätze mit bis zu 100prozentiger Abdeckung zu Verfügung. So gewinnen wir tieferen Einblick in Lernfortschritte, Lernerlebnis und Zusammenhänge als jemals zuvor. 

einfo21-digital: Bildungs-Technologien, EdTech – was kann man sich darunter vorstellen? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Das Thema ist natürlich sehr umfangreich. Abstrakt gesagt: EdTech sind neue Technologien mit einem Mehrwert für das Bildungssystem. Wenn Schüler frühzeitig in Kontakt mit disruptiven Technologien kommen, eignen sie sich recht schnell einen souveränen Umgang damit an. Solche Anwendungen sind künftig überall gefordert, wie Lesen, Schreiben und Rechnen. 

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen, den 3D-Druck. Mit einem 3D-Drucker können Schüler einfach in einem Browsertool Dinge gestalten und ausdrucken. So machen sie die Erfahrung, dass sich Projekte relativ einfach umsetzen lassen. Zugleich gewinnen sie Sicherheit im Umgang mit einer disruptiven Technologie – dem 3D Druck. Vor allem verbessern neue Technologien im richtigen Setting auch das Lernerlebnis. 

Anwendungen für virtuelle oder erweiterte Realität sind ein anderes, besonders plastisches Beispiel: Wer den Eiffelturm mit der 3D-Brille einmal umfliegt oder besteigt, hat sicher einen nachhaltigeren Eindruck, ja, ein Lernerlebnis, als der Betrachter des Lehrbuch-Bilds. 

einfo21-digital: Wem soll Technologie nutzen, wie beurteilt man den tatsächlichen Nutzwert? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Das ist eine wichtige Frage. Wir ziehen drei Kriterien für die Beurteilung heran: Effizienz, Effektivität und Attraktivität. 

Bei der Effizienz geht es um bessere Prozesse in den Schulen. So verwenden Lehrer heute nicht selten bis zu 60 Prozent ihrer Zeit auf die Korrektur von Tests. Das kann man mit E-Assessment-Systemen effizienter gestalten. Die „eingesparte Zeit“ steht dann für den direkten Lehrer-Schüler-Austausch zur Verfügung. Effektivität, als zweites Kriterium, soll das Lernen als solches verbessern. Der Lerneffekt soll steigen, die Lerninhalte besser bei Schülerinnen und Schülern verankert sein. So prägt sich die animierte Darstellung des Blutkreislaufs bei Mensch, Vogel, Fisch und Amphibium im Vergleich besser ein als das Tafelbild. Und sie lässt sich bei Bedarf leicht replizieren. Beim letzten Aspekt, der Attraktivität, geht es um motivierenden und faszinierenden Unterricht. So können Lehrer etwa – während sie über den Eiffelturm sprechen – die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig auf einer Smartphone-App virtuell das Gebäude besichtigen lassen. 

Zusammengefasst: Technologie muss eine der drei Kriterien erfüllen, sonst ist sie für den Einsatz in Lehr-/Lernsituationen an Schulen nicht sinnvoll. Dann geht es auch mit Kreide und Tafel, und man kann sich hohe Investitionen sparen. Am Ende geht es um ein gutes didaktisches Design.



einfo21-digital: Sie überblicken die europäische Schul- und Bildungssituation – wie ist Deutschland im internationalen Vergleich aufgestellt? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Es ist kein Geheimnis, dass Deutschland im internationalen Vergleich Nachholbedarf hat. Das gilt im Besonderen gegenüber unseren nördlichen Nachbarn. Sowohl die skandinavischen Länder als auch Estland oder die Niederlande sind aus meiner Sicht deutlich weiter bei der Adaption disruptiver Technologien für den Bildungssektor. Aktuell etwa beschränkt sich auch der Digitalpakt ausschließlich auf Hardware. Das greift viel zu kurz, und WLAN ist etwa in niederländischen Schulen schon lange selbstverständlich.

einfo21-digital: Sie erwähnten die Niederlande, wie sieht es dort aus? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Die Niederländer haben bereits vor 15 Jahren ihr Schulsystem reformiert und neu organisiert. In zwei Begriffen zusammengefasst: Die Schulen sind deutlich autonomer, als wir es kennen und sie stehen untereinander im Wettbewerb. Die zentral festgelegten nationalen Bildungsziele müssen sie erreichen und werden auch dahingehend auditiert, der Weg dorthin aber steht ihnen frei. Das hat zu viel mehr Innovationsbereitschaft und einer Vielfalt neuer didaktischer Konzepte geführt. Digitales Lernen ist längst Alltag, E-Assessment weit verbreitet und am Nachmittag lernen viele Schüler ihre Französischvokabeln mit der Schul-App. Das ist beeindruckend. Allerdings – und das sollte man auch im Blick halten, wenn man sich von den Nachbarn inspirieren lässt – neigt das niederländische Schulsystem dazu, Kinder durch viel zu viele Assessments zur Kompetenzmessung zu schleusen. Das erhöht den Stress-Faktor bei den Kindern deutlich und ist nicht nachahmungswert.

einfo21-digital: Und wie ist die Situation im Vergleich dazu in Deutschland, speziell in Hessen? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Nun, wir haben ja eigentlich 16 Länder mit ihren jeweiligen Bildungssystemen, denn bildungsföderal ist Deutschland nicht homogen. Insgesamt aber kann man feststellen, dass es zunächst an der technischen Basis fehlt. Weder ist flächendeckendes WLAN die Regel, noch ist die digitale Ausstattung überall gut. So gibt es in Hessen teilweise sehr gut ausgestattete Schulen. Gleichzeitig gibt es Schulen an anderen Orten, da kann man sich nur wundern. Gute technische Ausstattung macht aber auch nur Sinn, wenn ihre Einführung von einem strukturierten Weiterbildungsprogramm für die Lehrer begleitet wird. Das schönste Auto fährt man eben nicht ohne Führerschein. Die Konsequenz? Es mangelt an guten didaktischen Nutzungskonzepten, und manches Smartboard wird bloß als teure Plakatwand verwendet. 

einfo21-digital: Was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Aufgaben, die im hessischen Schulsystem rasch gelöst werden müssen? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Ich denke, wir brauchen zunächst ein ausgefeiltes und gutes didaktisches Konzept in Hessen, aber auch in allen anderen Bundesländern. Dieses Konzept kann sich auch von Schule zu Schule anders gestalten, je nachdem, welche Philosophie die jeweilige Schule verfolgt. Vor der Anschaffung von Hardware steht nämlich eine Frage: Was wollen wir mit Technologie erreichen und wie wollen wir Technologie einsetzen? Als zweites sollte es an die technische Ausstattung gehen, denn hier fehlt es an vielen Stellen an der Basis. Die dritte und vielleicht wichtigste Aufgabe aber sehe ich in einem strukturierten Weiterbildungsprogramm für Lehrende. Man lässt Schulen viel zu oft allein mit den Herausforderungen. Wir organisieren hierzu in Frankfurt einen Workshop auf der International Learning Analytics Konferenz (https://lak20.solaresearch.org/), wo sich Lehrer- und Schulleiter*innen mit renommierten Experten aus der ganzen Welt zu Digitalisierungsfragen in der Schule austauschen können. Diese und andere Transferaktivitäten sind sehr wichtig, um das Thema und den Wandel in der Schule nachhaltig zu begleiten.


einfo21-digital: Was erwarten Sie vom Digitalpakt? Wo ist aus Ihrer Sicht die hessische Politik stärker gefragt? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Hessen unternimmt viel und hat die Mittel des Digitalpakts sogar noch aufgestockt, so dass aktuell 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Angekündigt sind neben Hardware-Anschaffungen auch Fortbildungsangebote für Lehrer. Gerade die Fortbildung sehe ich positiv, allerdings bleibt die Umsetzung abzuwarten. Wichtig wäre, dass wir in Deutschland nicht nur in die anderen Bundesländer schauen, sondern uns internationale Vorreiter einladen bzw. besuchen, um von deren Erkenntnissen profitieren und nicht versuchen, das Rad wieder neu zu erfinden. Die internationale Community ist wirklich sehr nett und teilt ihr Wissen sehr gerne, davon sollten wir Gebrauch machen. Vielleicht könnte sich Hessen als „Klein-Holland“ begreifen und sich mit einem begleitenden Beratungsprogramm für Schulleitungen an die Spitze der Innovation setzen? Wichtig wäre dabei auch verstärkte didaktische Begleitforschung, damit wir solide Entscheidungsgrundlagen für die Zukunft gewinnen.

einfo21-digital: Und die Lehrkräfte fordern Unterstützung. Gibt es diese? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Soweit mir bekannt ist, haben nur Bayern und Hamburg belastbare Daten zur Lehrerfortbildung erhoben. Zwar sind Lehrer zur Weiterbildung verpflichtet, aber welche Angebote sie wahrnehmen, weiß man nicht so genau. Insofern tappen wir ziemlich im Dunkeln. Ich finde das sehr schwierig. Denn es gibt viele engagierte Lehrer, die neue Technologien gerne in den Unterricht integrieren würden – wenn sie denn die entsprechende Unterstützung erführen. Aus meiner Sicht gehören Educational Technologies integral zur Lehrerausbildung.

einfo21-digital: Von welcher Technologie halten Sie denn gar nichts? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Das kann ich so nicht sagen, denn es kommt immer auf den didaktischen Kontext an. Vielleicht ein Beispiel: Wenn man das bewährte gedruckte Biologie-Lehrbuch als PDF auf einem Tablet-PC zu Verfügung stellt, hat wohl niemand etwas gewonnen. Optionen, wie Videos oder Animationen, die neue Lern-Chancen erlauben, bleiben damit ungenutzt. Lerntechnologie erfordert ein komplettes Umdenken und bietet somit auch die Chance die Schule neu zu denken.

einfo21-digital: Wie lernen die Hessen in fünf, wie in 25 Jahren? 

Prof. Dr. Hendrik Drachsler: Ich gehe davon aus, dass wir mit den Mitteln aus dem Digitalpakt endlich alle Schulen am Netz haben, so dass auch jeder das Netz nutzen kann und nicht immer nur eine Klasse online sein kann, weil sonst die Bandbreite aufgebraucht ist. Ich hoffe, dass ein nachhaltiges und gerechtes Modell zur Nutzung von Hardware ausgewählt wird, um die Benachteiligung im deutschen Schulwesen nicht noch durch digitale Medien zu verschärfen. Erfolgreiche Umsetzungen dazu kann man sich in vielen Ländern in Europa anschauen. Auch wäre es gut, wenn das Weiterbildungsangebot stärker systematisiert würde. Gezielte Weiterbildung für Lehrende ist unabdingbar. Nach dem Erziehungswissenschaftler John Hattie hat dies den größten Effekt auf den Lernerfolg von Kindern.

Ich würde mir wünschen, dass wir in 25 Jahren eine aktive Lehrer-Community in Deutschland haben, die sich gegenseitig in Digitalisierungsfragen unterstützt. Diese Community könnte sich in Special Interest Groups der neuen Medien annehmen und deren Potenzial für die Bildungspraxis testen. Des Weiteren sollten wir innovative Begegnungsstätten und Förderformate anbieten, wo Lehrende auf Kollegen oder Bildungswissenschaftler treffen und neue, spannende didaktische Ideen entwickeln. Der Bereich der Bildungsforschung sollte viel enger mit der Schule verbunden sein, sowohl offline als auch online. 

Mein Traum wäre es, dass wir in 25 Jahren ein vielfältiges Schulsystem haben, mit verschiedene Schulmodellen, in Schulgebäuden mit überraschenden Architekturen. Ein Schulsystem, das zum Lernen einlädt und Kindern das Lernen auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen ermöglicht. Der Lehrer wäre dann mehr Coach und Lernbegleiter und auch der Umgang mit digitalen Medien wäre dann ganz selbstverständlich. Im Zentrum steht auch dann, nach wie vor, der zwischenmenschliche Austausch und die persönliche Entwicklung des Individuums. 

einfo21-digital: Herr Prof. Drachsler, vielen Dank für die interessanten Ausführungen!

Weiterführende Informationen 

Arbeitsbereich “Educational Technologie am DIPF” – Tätigkeitsfeld von Prof. Dr. Henrik Drachsler 

Internationale Learning Analytics Konferenz in Deutschland mit einem extra Workshop zur Digitalisierung in der Schule: https://lak20.solaresearch.org/

Interessierten Schulleitungen und Kommunen steht Prof. Dr. Henrik Drachsler für Austausch zu Forschung und begleitende Beratung unter Drachsler@dipf.de zur Verfügung. 

Learning Analytics – wer in die Tiefen von Big Data Analysen und Bildung vordringen will, findet hier einen breiten Ausgangspunkt: https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-662-54373-3_42-1

Sehr kompakt ins Thema Lernen und Analytics führt folgende Blog-Reihe ein:
https://www.instructure.com/canvas/de/blog/learning-analytics-challenges-fallstricke-fuer-hochschulenund lässt auch ethische Fragen nicht aus. 

„Digitale Schule Hessen“ – das neue Bildungsprogramm der Hessischen Landesregierung: https://www.hessen.de/presse/pressemitteilung/landesregierung-stellt-programm-digitale-schule-hessen-vor

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