Bürgermeister im Dialog

Oberbürgermeister Jochen Partsch, Darmstadt

Was bewegt Darmstadt gerade?

Unser aktueller Erfolg in der zweiten Staffel des BMI-Wettbewerb Smart Cities verpflichtet natürlich: Wir müssen zügig in die Konzeptphase einsteigen und die beantragten Projekte auf den Weg bringen. Dank des etablierten und belastbaren Netzwerkes, das wir durch die Digitalisierungsvorhaben entwickelten, wird das sehr gut funktionieren. Kommendes Jahr wird also geprägt durch viele neue Kooperationen innerhalb unserer städtischen Organisation und der hiesigen Akteure aus der gesamten Stadtgesellschaft, also der Politik, der Wissenschaft und Wirtschaft, der Kultur, ja der gesamten Bürgerschaft. Gemeinsam wollen wir eine noch engere Verzahnung von Digitalisierung und Stadtentwicklung erreichen.

Digitalisierung und Smart City – wieso ist Darmstadt so viel weiter als andere Kommunen? Was ist Ihr Erfolgsrezept?

Als Wissenschaftsstandort sind wir geprägt durch international renommierte Forschungseinrichtungen mit Fokus auf Ingenieurs- und Technikwissenschaften. Die TU, die h_da, unsere Fraunhofer-Institute, das GSI und die ESA: All diese Institutionen beschäftigen sich auch mit den Computational Sciences, auf denen die Digitalisierung fußt, oder beschäftigen sich wissenschaftlich mit Smart City-Fragestellungen. Die Forschenden arbeiten eng mit uns in vielen Projekten zusammen und revolutionieren dabei analoge Prozesse. Hinzu kommt, dass wir bereits vor der Privatisierung der Telekom einer der wichtigsten (Forschungs-)Standorte für die damals noch öffentlich regulierte und junge Telekommunikation waren. Auch seitens der privatwirtschaftlichen Infrastruktur sind die Weichen also günstig gestellt.

Als Wirtschaftsstandort sind wir damit insgesamt sehr attraktiv. Wir haben eine große Start-up Szene. Aber auch Tech-Unternehmen aus dem Ausland finden Darmstadt als Standort reizvoll. Die Anbindung an den internationalen Flughafen, die schnelle Erreichbarkeit der Finanzmetropole Frankfurt mit der Börse sowie die sehr gute ÖPNV-Struktur und die Anbindung an mehrere Autobahnen: Viele bezeichnen uns daher als German Silicon Valley for Smart City Technologies. Zusätzlich sind wir als Zentrum des Jugendstils quasi dazu verpflichtet, das Zeitgeschehen zu reflektieren. So beschäftigt sich unsere Kultur- und Kunstszene intensiv mit den Digital Arts. Das wiederum ist ein Magnet für weitere Impulse und Perspektiven.

Digitalisierung verstehen wir als große Gemeinschaftsaufgabe, die sich eben nicht allein auf Technik oder Vernetzen reduzieren lässt. Unser Vorsatz ist, mit Digitalisierung den Alltag der Bürgerinnen und Bürger zu erleichtern sowie niemanden von dieser Entwicklung auszuschließen. Barrierearmut in der digitalen und der analogen Welt, digitale Teilhabe und digitale Kompetenz – das sind ebenso wichtige Pfeiler unserer Digitalisierungsrezeptur.

Zu guter Letzt muss ich auf diese Frage auch mit unserer bereichsübergreifenden Arbeit antworten. Wir haben die städtische Organisation für die Digitalisierung aufgebrochen, arbeiten organisationsübergreifend und interdisziplinär. Dadurch behalten alle Teilbereiche das große Ganze im Blick und wir können sukzessive die gesamte städtische Daseinsvorsorge in die Digitalisierung aufnehmen.

Was kann die Digitalisierung für die Stadt, die Verwaltung, die Bürger leisten?

Sie kann und muss dazu dienen, den Alltag zu vereinfachen. Beispielsweise haben wir ein kostenfreies städtisches WiFi, das wir auch auf öffentliche Bussen und Bahnen ausgeweitet haben. Wer also gerade in der Stadt unterwegs ist und ein Hotel buchen will, kann dies ohne Netzunterbrechung machen. Auch arbeiten wir daran, viele Behörden- und Amtsgänge zu digitalisieren und haben bereits sehr viel Service bearbeitet: Ob Parkplatzausweis oder Urkundenbeantragung – die Darmstädter können behördliche Dinge des Alltags online in die Wege leiten.

Ein besonderes Anliegen ist mir, wie Digitalisierung Umweltschädigungen zu vermeiden hilft. Wir haben ein komplexes Umwelt-Sensornetz installiert, das künftig mit einer städtischen Datenplattform verknüpft wird. Dadurch sollen ad hoc Regulierungen möglich werden, um Abgase, Emissionen und andere Umweltbelastungen zu minimieren. Das dient der Ökologie ebenso wie der Gesundheit.

Welche Projekte hat die Digitalstadt schon umgesetzt, was ist geplant?

Da gibt es viel zu berichten: Bereits an die 50 Projekte sind umgesetzt, 30 sind noch in der Pipeline. Zunächst einmal benötigt Digitalisierung Infrastruktur. Also haben wir diese in gleich mehreren Projekten in Angriff genommen. Ein Beispiel ist das LoRaWAN, ein niederfrequentes Netzwerk für Anwendungen im „Internet der Dinge“. Wir setzen es beispielsweise bei der Optimierung unserer Müllentsorgung ein: Ein Sensor misst die Füllsituation eines Müllcontainers und löst gezielte Entsorgungsfahrten los. Das spart Abgase.

Sensoren kommen in zahlreichen Projekten zum Einsatz. Sie helfen uns, die Ökobilanz unserer Stadt zu verbessern, indem sie hier Umweltbelastungen messen, dort adaptiv bei Bedarf Licht einschalten oder auch dazu beitragen, den Verkehr in Stoßzeiten via Signalanlagen flüssiger durch die Stadt zu lotsen. Der bundesweit erste Citytree wurde bei uns aufgestellt. Als BioTech-Filter soll er zur Luftverbesserung beitragen und kann ganz nebenbei als Stadtmobiliar genutzt werden – etwa zum Ausruhen während des Einkaufsbummels. Wer genau so etwas lieber Zuhause online erledigt, kann mit dem Digitalen Schaufenster die Shops unsere Einzelhändler auch an einem einzigen Web-Ort online aufsuchen und einkaufen. 360°-Runden durch die Geschäfte und Bestellmöglichkeiten haben die lokale Wirtschaft gerade unter Corona maßgeblich stützen können. Derzeit komplettieren wir dieses Angebot mit einem E-Lastenrad-Lieferservice.

Dann haben wir auch viele soziale Projekte umgesetzt. Das Haus der digitalen Medienbildung hilft Eltern, Pädagogen und Schülern gleichermaßen, sich souverän mit dem schnellen Wandel der digitalen Kommunikation auseinanderzusetzen und adäquat und selbstbewusst zu agieren. Im Projekt „Digital für Alle“ erarbeiten wir, wie Inklusion und Digitalisierung zusammen funktionieren und wir bieten zudem zahlreiche Nachbarschafts- und QuartierApps an. Weitere Projekte aus den Bereichen Bildung, Infrastruktur, Umwelt, Kultur, Tourismus, Handel, Mobilität und Verwaltung können auf der Webseite der Digitalstadt Darmstadt nachgelesen werden.

Gab es besondere Hemmnisse und wie hat man diese überwunden?

Eine mittelgroße Großstadt zu digitalisieren ist eine Mammut- und eine Pionieraufgabe. Sie benötigt Mut und Zuversicht, Menschen, die daran glauben und mitwirken wollen sowie natürlich eine solide finanzielle Basis, um Digitalisierungsprojekte nicht zur Eintagsfliege verkommen zu lassen. Digitalisierung ist zudem eine Multi-Akteur-Aufgabe, die viel Abstimmung und Kommunikation benötigt. Verständlicherweise gibt es dabei auf vielen Ebenen größere und kleinere Fallstricke. Um Hemmungen und Hemmnisse generell abzubauen, haben wir einen Ethik- und Technologiebeirat gegründet, der Ethikleitplanken definiert hat und die Digitalisierungsarbeit begleitet.

Mit den Fördermitteln des BMI stehen zusätzliche Mittel bereit. Was hat in Darmstadt besondere Priorität?

Die Herausforderungen, die mit dem Klimawandel einhergehen wie Wasserknappheit und drohende Dürreperioden sind von hoher Priorität. Um für solche Probleme stimmige Maßnahmen zu entwickeln, wollen wir wiederum mit einem ganzheitlichen Ansatz arbeiten: Nachhaltige Energieversorgung, energiesparendes Wohnen und Bauen sowie weitere, ökologisch sinnvolle Mobilitätslösungen spielen da hinein. Geplant ist beispielsweise, mit der neuen Förderung durch das BMI unser Wassermanagement intelligent zu gestalten. Dazu gehören intelligente Wasserbrunnen in den Quartieren, die Überwachung und intelligente Steuerung von Energiesystemen in Darmstadt, die intelligente Überwachung von Grünanlagen und Investition in intelligente sparsamere Bewässerungssysteme. Es geht also stärker als zuvor in Richtung Stadtentwicklung mit Digitalisierung. 2021 wird insbesondere für die Konzeption und Ausarbeitung dieser Ansätze genutzt und mit einer Teilhabe der Bürgerschaft verknüpft. Die Projekte selbst beginnen ab 2022.

Welche Rolle spielt die ekom21 bei der Umsetzung der Digital-Strategie?

Die ekom21 ist IT-Systemhaus und Konsortialführer des Zusammenschlusses, der die städtische Datenplattform konzipiert und umsetzt. Diese Datenplattform ist eines der Herzen unserer Digitalisierungsstrategie. Das Konsortium selbst ist besetzt mit unseren IT-Experten aus Verwaltung und Stadtwirtschaft sowie den IT-Dienstleistern ui! und DARZ. ekom21 stellt zudem das Bürgerservicekonto des Landes Hessen zur Verfügung und damit einen weiteren wichtigen Baustein der Digitalisierung.

Die städtische Datenplattform als Herz? Warum ist sie so entscheidend für das Gelingen einer nachhaltigen Digitalisierung?

Täglich entstehen in Darmstadt viele unterschiedliche Daten: Ver- und Entsorgung, Verwaltung, Bauwesen, Logistik und Mobilität, um nur einige zu nennen. Diese Daten wollen wir mittels einer zentralen Datenplattform miteinander in Bezug setzen und sie stärker als zuvor vernetzen, um einen Mehrwert zu generieren. Der entsteht etwa dann, wenn wir Umweltmesswerte unmittelbar in die Algorithmen zur Verkehrslenkung integrieren oder wenn Daten in Echtzeit abrufbar und visualisiert sind. So lernen wir mehr über unsere urbanen Lebensströme und kommen zügiger zu Entscheidungen.

Übrigens, auch als Wirtschaftsstandort gewinnt Darmstadt durch die Datenplattform an Attraktivität, wenn sich neue Synergien oder Geschäftsmodelle mit verschiedenen öffentlichen und privaten Dienstleistern ergeben. Urbane Daten sind zudem eine wertvolle Quelle für Wissenschaft und Innovationen aus der Privatwirtschaft. Und der Bildungssektor kann ebenso durch die Datenplattform Bereicherung für seine Lehrpläne gewinnen.

Was ist Ihr ganz „persönliches Lieblingsprojekt“?

Mir liegen alle Projekte, die wir als Digitalstadt Darmstadt umsetzen, sehr am Herzen. Bei jedem einzelnen dieser Projekte sind nämlich die Projektverantwortlichen und Bearbeitenden mit sehr viel Engagement und proaktiv dabei, die Stadtentwicklung mitzugestalten. Wir sehen die Digitalisierung als eine große Gemeinschaftsaufgabe und Herausforderung an, zu der jedes noch so kleine Projekt einen wichtigen Beitrag liefert.

Bei aller Euphorie: In welchen Bereichen wird Technologie Kommunen auf absehbare Zeit keine Lösungen bieten können?

Die Digitalisierung hat als allgegenwärtiger Trend sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche durchdrungen. Wir sehen große Vorteile, wenn sie zu einer höheren Lebensqualität führt und Effizienz steigert, im Beruflichen wie im Privaten. Hier hilft sie Zeit zu sparen oder im engen Austausch zu bleiben, dort Doppelarbeit zu vermeiden. Und überall entstehen neue Formen des Interagierens miteinander. Dieses Interagieren via digitaler Kommunikation bleibt dabei dennoch eine Kommunikation auf Distanz. Was die Digitalisierung uns also niemals abnehmen wird, ist das soziale Miteinander und die Fürsorge füreinander. Für eine Kommune bedeutet dies: Alle digitalen Services und Rahmenbedingungen sollte sie auch analog vorhalten, allein um barrierearm zu sein. Damit einher geht die digitale Teilhabe. Wir müssen dafür sorgen, dass Digitalisierung nicht ausgrenzt.

Was entspannt Sie, wenn Sie sich gerade nicht mit der Zukunft beschäftigen?

Das sehr ambitionierte und rege kulturelle Leben Darmstadts bietet immer wieder neue Möglichkeiten, den Kopf frei zu bekommen. Wer auf der Mathilden- und Rosenhöhe schon einmal einen Blick in unsere Geschichte, speziell in den Jugendstil geworfen hat, weiß wovon ich rede: Darmstadt wurde als „Neue Stadt“ erfunden. Die Gedanken und Ideen der damaligen Stadtgründer sind immer noch Anregung und Muse im Heute. Es macht Spaß, die eigene Arbeit mit diesen gesellschaftsphilosophischen Ansätzen zu erleben.

Herr Partsch, vielen Dank für das sehr anregende und spannende Gespräch.


Weiterführende Informationen

 Darmstadt hat nicht nur eine Vision, sondern auch eine Strategie als Digitalstadt: https://www.digitalstadt-darmstadt.de/digitalstadt-darmstadt/strategie-vision/

 Einen Überblick über die städtischen Onlinedienste gewinnt man hier: https://www.darmstadt.de/rathaus/online-dienste

 Weitere Hintergründe zur Smart City – ekom21 realisiert mit Partnern die Datenplattform Darmstadt: https://www.ekom21.de/infocenter/einfo21-digital/2020/september/datenplattform-darmstadt/