
Vorstoß in die digitale Dekade
Beispiele aus EU-Vorreiterstaaten
Grafik: European Commission, „Shaping Europe’s digital future“, Digital Decade policy programme, DESI dashboard for the Digital Decade (2023 onwards), online: https://digital-decade-desi.digital-strategy.ec.europa.eu/datasets/desi/charts
Im aktuellen Digital Economy and Society Index (DESI) liegt Deutschland bei der Digitalisierung öffentlicher Verwaltungsdienste unter dem EU-Durchschnitt. An der Spitze stehen unter anderem Estland, Finnland und Dänemark. Betrachtet wurden verschiedene Indikatoren, darunter zum Beispiel die Anzahl an Personen, die digitale Verwaltungsdienste regelmäßig nutzen (Grafik).
Estland – von Null auf 100 % digital
Estland hat jeden Verwaltungsakt digitalisiert und ist damit im Bereich Verwaltung zu 100 % digital. Das verkündete die estnische Regierung zu Beginn dieses Jahres.
Basis dafür ist die elektronische Identität (eID), die in Estland bereits 2002 verpflichtend eingeführt wurde und heute von 99 % der Bevölkerung genutzt wird. Sie ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern das Ausweisen im digitalen Raum und gilt auch über Behördliches hinaus in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens – vom Arztbesuch über den öffentlichen Nahverkehr bis zum Fitnessstudio. Sogar die Stimmabgabe bei Wahlen ist in Estland elektronisch mit der eID möglich.
Das digitale Rückgrat Estlands ist die X-Road – eine „Datenautobahn“, die die Datenbanken der Behörden miteinander vernetzt. Für den Datenverkehr gilt das sogenannte Once-Only-Prinzip. Es sieht vor, dass jede Information nur einmalig abgefragt und unter den Behörden ausgetauscht wird. In Estland kann jede Person mit dem „Data tracker“ nachverfolgen, welche Behörde wann auf die eigenen Daten zugegriffen hat.
Dass Estland heute eine Vorreiterstellung bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors einnimmt, hat auch historische Gründe. Der baltische Staat gehörte einst zur ehemaligen Sowjetunion. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 und zurückerlangter Unabhängigkeit brauchte Estland einen raschen und kostengünstigen Aufbau der Verwaltungsinfrastruktur – und entschied sich für den digitalen Weg. Estland ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich Digitalisierung aus Notwendigkeit („digital by emergency“) zum Standard („digital by default“) entwickeln kann. In Estland gibt es heute eine breite Akzeptanz für die digitale Verwaltung – nicht zuletzt, weil Akzeptanz und Vertrauen über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten aufgebaut wurden.
Finnland – Digitalisierung als Schlüssel zum Glück?
Finnland wurde kürzlich zum achten Mal in Folge zur glücklichsten Nation der Welt erklärt. Die Finnen sind also nicht nur Digitalisierungsvorreiter, sondern auch Weltmeister im Glücklichsein – Zufall oder Zusammenhang?
Der Weltglücksbericht wird alljährlich von einem interdisziplinären Forschungsteam erstellt und basiert auf weltweiten Umfragen zur Lebenssituation und Zufriedenheit der Menschen. Die Vorstellung von einem glücklichen Leben ist natürlich subjektiv, für einige ist sie aber verknüpft mit Freiheit und (räumlicher sowie zeitlicher) Unabhängigkeit. Dazu trägt auch die Digitalisierung von Staat und Verwaltung bei, wie sie in Finnland bereits weit fortgeschritten ist.
Auch in Finnland nutzt ein Großteil der Bevölkerung seine elektronische Identität regelmäßig. Erwähnenswert ist, dass es in Finnland verschiedene eID-Optionen gibt. Neben der auch Authentifizierung per Online-Ausweisfunktion können sich die Finnen auch über ihr Online-Banking und ihre SIM-Karte ausweisen. Alle Ausweisoptionen sind an das staatliche „Finnish Trust Network“ (FTN) angebunden, das eine sichere Identitätsprüfung gewährleistet.
Digitales Ausweisen wurde in Finnland auch schon im Reiseverkehr getestet. In einem Testzeitraum von August 2023 bis März 2024 konnten sich Reisende am Flughafen in Helsinki mit einer digitalen Version ihres Reisepasses auf dem Smartphone ausweisen. Sie durchliefen die Grenzkontrolle durchschnittlich in acht Sekunden. Laut finnischen Behörden wurde zum ersten Mal ein digitaler Reisepass in einer realen Grenzumgebung getestet und das anscheinend mit Erfolg – inzwischen plant die Europäische Kommission die Einführung digitaler Reisedokumente und einer EU-App für digitales Reisen.
Dänemark – Verwaltung per Klick statt mit Kuvert
Der Staat Dänemark hat seine Verwaltung so weit digitalisiert, dass er die Briefzustellung zum Ende des Jahres einstellt.
Bereits seit 2024 gibt es in Dänemark keine herkömmlichen Briefmarken mehr. Zum Ende dieses Jahres werden nun öffentliche Briefkästen abgebaut und die staatliche Briefzustellung eingestellt. Dann übernehmen kleinere Unternehmen den verbleibenden Briefverkehr, der nach Angaben der staatlichen „Postnord“ seit der Jahrtausendwende um über 90 % zurückgegangen ist. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Behördenpost wird in Dänemark nur noch über das digitale Postfach ‚‚E-Boks‘‘ übermittelt. Und auch darüber hinaus bestimmt digitale Kommunikation den Alltag.
Basis dafür ist auch in Dänemark ein elektronisches Identitätssystem, das vom Großteil der Dänen genutzt wird. Die sogenannte „MitID“ ermöglicht das Ausweisen im digitalen Raum, um Verwaltungsdienste zu nutzen, Bankgeschäfte zu erledigen, den Arzt zu kontaktieren oder die Kinder von der Schule abzumelden. Jede MitID ist verknüpft mit einer zehnstelligen Personenkennziffer, die in Dänemarks Personenregister (CPR) gespeichert ist. Das 1968 eingeführte „Centrale Personregister“ ist eine zentrale Datenbank aller in Dänemark lebenden Menschen. Sie ist das Fundament von Dänemarks digitaler Verwaltung.
Wie in Estland, setzte auch in Dänemark eine Notlage die Verwaltungsdigitalisierung in Gang. Nach der weltweiten Finanzkrise von 2007/2008 digitalisierte Dänemark in den Folgejahren seine Verwaltung schrittweise, um Kosten zu senken.
Zugegeben, mit einer Bevölkerung von derzeit 1,3 Millionen in Estland, 5,6 Millionen in Finnland und knapp 6 Millionen in Dänemark zu 84,2 Millionen in Deutschland ist der Vergleich nicht ganz fair.
Dennoch können wir daraus einige Impulse ableiten.
Take-Aways
Digitale Identität bildet die Basis
Eine starke digitale beziehungsweise elektronische Identität ist der Grundstein für einen modernen Staat mit digitaler Verwaltung.
Digitalisierung zahlt sich aus
Die Digitalisierung öffentlicher Verwaltungsdienste zahlt sich aus – auch mit einer hohen Lebenszufriedenheit.
Digitalisierung gelingt auch mit Datenschutz
Alle EU-Mitgliedsstaaten sind an denselben datenschutzrechtlichen Rahmen gebunden. Vorreiter wie Estland, Finnland und Dänemark zeigen, dass der hierzulande häufig gefürchtete Datenschutz kein Hindernis für die Verwaltungsdigitalisierung sein muss.
Krisen sind Innovationstreiber
Der Digitalisierungsweg einiger Vorreiterstaaten zeigt: Oftmals entwickeln sich in der Not gefundene Lösungen („digital by emergency“) zum neuen Standard („digital by default“). Zugleich sollten wir uns nicht auf dieser Erkenntnis ausruhen.
Digitale Transformation geschieht nicht von heute auf morgen
EU-Länder, die bei der Digitalisierung von Staat und Verwaltung führend sind, haben das gesellschaftliche Vertrauen in digitale Dienste über Jahrzehnte aufgebaut.